OGH-Urteil zur Aufsichtspflicht über eine volljährige Person mit Behinderungen
Zusammenfassung des OGH-Urteils
Im Jahr 2018 kam es zu einem Verkehrsunfall, den ein erwachsener Mann mit Behinderungen verursachte. Dieser ging von der Einrichtung, in der er arbeitete, alleine zum Einkaufen. Er überquerte die Straße, achtete dabei jedoch nicht auf den Verkehr und benutzte den Zebrastreifen nicht. Ein Auto erfasste ihn dabei, weil es nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.
Fahrzeughalterin klagt Einrichtung
Die Halterin des Unfallfahrzeuges klagte daraufhin die Betreuungseinrichtung des Mannes auf den entstandenen Schaden. Aus Sicht der Fahrzeughalterin kam es durch den Unfall unter anderem zu einer Wertminderung an ihrem Auto und sie erlitt psychische Unfallfolgen, wie Schlafstörungen. Die Klägerin vertritt die Ansicht, dass der erwachsene Mann mit Behinderungen nicht in der Lage war, selbstständig einkaufen zu gehen und die Betreuungseinrichtung eine Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB über den Mann mit Behinderungen habe. Diese Pflicht hätte die Einrichtung verletzt, indem sie den Mann allein Einkaufen gehen ließ. Deswegen hafte die Einrichtung für Schäden, die verursacht wurden.
Einkaufstraining für mehr Selbstständigkeit
Die Betreuungseinrichtung hatte Wochen vor dem Unfall ein „Einkaufstraining“ durchgeführt. Dabei wurde der Mann mit Behinderungen zuerst auf dem Einkaufsweg begleitet und ihm mögliche Gefahren, wie auch das Queren der Straße, erklärt. Danach wurde der Mann mit etwas Abstand beim Einkaufen begleitet und schlussendlich nur noch von der Einrichtung aus beobachtet, bis er vollständig ohne Beobachtung und Begleitung alleine einkaufen ging. Die Mitarbeiter*innen der Einrichtungen waren der Ansicht, dass das „Einkaufstraining“ positiv absolviert wurde und selbstständiges Einkaufen möglich ist.
Die Betreuungseinrichtung betonte, dass eine solche Vorgehensweise dem Auftrag entspreche, die selbstständige Lebensführung von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Dieser Auftrag geht aus dem Tiroler Teilhabegesetz (TTHG) sowie der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hervor. Die Forderung der Klägerin würde zu einem Wegsperren von Menschen mit Behinderungen beziehungsweise zu einer unzumutbaren Überwachung rund um die Uhr führen.
Entscheidung des OGH
Der Fall ging bis zum Obersten Gerichtshof (OGH), der über die Notwendigkeit der Aufsicht oder dem Recht auf Selbstbestimmung entscheiden musste. Der OGH entschied, dass die Betreuungseinrichtung ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt hatte. Eine Aufsichtspflicht der Betreuungseinrichtung nach § 1309 ABGB ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus dem Vertrag zwischen der Einrichtung und der Person mit Behinderungen.
Die Haftung wäre nur möglich, wenn allgemeine Verkehrssicherungspflichten verletzt wären, indem eine „Gefahrenquelle“ geschaffen wird. Der OGH hält ausdrücklich fest, dass eine „Gefahrenquelle“ nicht geschaffen wird, wenn die Grundsätze der UN-BRK beachtet werden und dem Mann mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird.
Die UN-BRK legt in ihren Grundsätzen nach Art. 3 lit. a UN-BRK fest, dass die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft sowie die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, zu achten sind. Menschen mit Behinderungen muss es ermöglicht werden, selbstständig zu leben (Art. 19 UN-BRK) und mobil zu sein (Art. 20 UN-BRK). Die Betreuungseinrichtung hat die Aufgabe, diese selbstständige Lebensführung zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1 TTHG).
Die Betreuungseinrichtung hat mit dem Einkaufstraining und dem selbständigen Einkaufen keine allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt, sondern angemessene Maßnahmen zur Förderung der Selbstbestimmung ergriffen.
Fazit des Unabhängigen Monitoringausschusses
Der Unabhängige Monitoringausschuss begrüßt ausdrücklich die Entscheidung des OGH. Mit dieser wird das Recht auf Selbstbestimmung nach Art. 19 UN-BRK sowie auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK gefördert. Außerdem ist die explizite Entscheidung, Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft teilhaben zu lassen, anstatt sie wegzusperren ein klarer Schritt zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation Österreichs.
Dieses Urteil des OGH wendet sich gegen eine bevormundende Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen und unterstützt die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft, wie sie von der UN-BRK vorgesehen ist.